5 nach 12, oder warum wir nicht bremsen können

18.10.1902

Die synchronisierte Zeit

Innsbruck und die M.E.Z.

Der Übergang von den Zeiten der Natur hin zur Zeit der Uhr erfolgte in vielen kleinen und im Rückblick meist nicht erwähnenswerten Schritten. Den 18. Oktober 1902 herauszugreifen, ist eine Möglichkeit, um dem so natürlich erscheinenden und sozial konstruierten Phänomen „Zeit“ nahezukommen.

Frühe Zeitmesser wie Sanduhren dienten dazu, eine bestimmte Dauer zu messen. Für den Grundrhythmus sorgte der Wechsel von Tag und Nacht. Vor gut 500 Jahren bekamen die Kirchtürme zu den Glocken erste Uhren. Damit gab nun eine Maschine Auskunft darüber, wie spät es ist. Über die Jahrhunderte erhielt diese zusätzliche Zeiger für Minute und Sekunde und wurde kleiner, wanderte quasi vom Turm in die Westentasche. Die Beschleunigung vieler Lebensbereiche im 19. Jahrhundert verdichtete die zeitlichen Abhängigkeiten mit der Folge, dass viele Städte öffentliche Uhren installierten, um den Bürgerinnen und Bürgern eine, auch eingeforderte, Zeitinfrastruktur zu bieten. Parallel zur Technik entwickelten sich Regeln.

Das k. k. Handelsministerium verordnete 1891, dass die Eisenbahnen der österreichisch-ungarischen Monarchie nicht mehr nach den Ortszeiten von Prag und Budapest, sondern nach der „mitteleuropäischen Zeit (abgekürzt M.E.Z.)“ verkehren sollten. Im bürgerlichen Leben machte sich diese Änderung bald bemerkbar, und als eine Art Schlusspunkt kann der Schritt der Stadt Wien gelten, die mit 1. Mai 1910 die „Wiener Zeit“ durch die „mitteleuropäische Zeit“ ersetzte.

Für Innsbruck vermeldeten die Innsbrucker Nachrichten bereits 1891, dass die öffentlichen Uhren der Stadt auf die mitteleuropäische Zeit eingestellt seien, und nicht „wie vielfach geglaubt wird, um 14 Min gegen die Bahnzeit zurück sind, welcher Irrthum bereits schon zu manchen Unannehmlichkeiten führte“. Somit wurde die Ortszeit – die gegenüber der M.E.Z. um 14 Minuten zurück ist – scheinbar direkt durch die „neue Zeit“ ersetzt; zumindest der Absicht nach. Einblick in die Praxis gibt ein in derselben Zeitung erschienener Kommentar vom 13. Jänner 1902, der eine am Abend hellerleuchtete Standuhr in der Maria-Theresien-Straße lobt. Der Haken sei nur, dass die drei Zifferblätter der Uhr unterschiedliche Zeiten anzeigen würden und so offen bleibe, „ob dieses oder jenes Zifferblatt ‚mitteleuropäische Zeit‘ – Stadtzeit – oder sonst eine nicht qualificierbare Zeit aufzeigt“.

Rasch fand das Thema den Weg in den Gemeinderat und wurde bereits am 28. Februar 1902 diskutiert. Den Anlass bot der Fahrplan des „Brenner-Localzuges“, bei dem eine zusätzliche Verbindung gefordert wurde. Daran anknüpfend wurde „über die großen Differenzen in den Zeitangaben unserer öffentlichen Uhren energisch Klage“ geführt. Wer zur Abfahrt eines Zuges am Bahnhof rechtzeitig eintreffen wolle, müsse mittels der Uhren in der Stadt eindeutig feststellen können, wie spät es sei.

Im Auftrag des Bürgermeisters hatte der Uhrmacher Johann Trauner bereits versucht, die öffentlichen Uhren mit dem Stadtturm zu synchronisieren. Doch da die Kirchenvorstände ihn abgelehnt hatten, blieben die Möglichkeiten der Regulierung auf die städtischen Uhren beschränkt. Die Hoffnung ruhte nun auf weiteren Gesprächen, da wohl nicht jeder der „Vorstände der verschiedenen Kirchen [...] für sich bezw. seinen Kirchensprengel eine eigene, von der mitteleuropäischen Zeit abweichende Stundenzählung haben will“.

Trauner, erst 1901 von Oberösterreich nach Innsbruck gekommen, ließ am 5. März 1902 in den Innsbrucker Nachrichten verkünden: Er sei bereit, „für die Dauer eines Jahres sämmtliche hiesige öffentliche Uhren ohne jedes Entgelt aufzuziehen und genau nach der mitteleuropäischen Zeit zu regulieren“. Ein zweites Angebot gab der bereits seit den 1870ern als Uhrmacher in Innsbruck tätige Johann Höpperger ab. Er schätzte, dass zur Regulierung der öffentlichen Uhren ungefähr alle zwei Tage ein Rundgang von drei Stunden nötig sei, wofür er eine jährliche Pauschale von 200 Kronen (an Kaufkraft 2023 etwa 1.700 EUR) veranschlagte. Dieses Angebot nahm der Gemeinderat an, da es ihm „voraussichtlich gelingen dürfte, die Controle der Kirchenuhren übertragen zu erhalten“.

Im Juli 1902 richtete das Stadtmagistrat noch einen Brief an Höpperger, um ihn an seine „übernommene Verpflichtung zur Controle der Uhren“ zu erinnern, denn die öffentlichen Uhren zeigten neuerlich beträchtliche Abweichungen. Doch damit wurde dieser Akt geschlossen. Und was ist nun mit dem 18. Oktober 1902? Für diesen Tag, einen Samstag, findet sich die folgende kurze und prägnante Meldung in den Innsbrucker Nachrichten, die vermuten lässt, dass sich eine gewünschte Genauigkeit der Uhren eingestellt hatte:

Wir werden ersucht mitzuteilen, daß am Samstag sämtliche öffentliche Uhren der Stadt auf mitteleuropäische Zeit umgestellt werden.

Quelle: Innsbrucker Nachrichten vom 16.10.1902, S. 2